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Stotzing

Für die Lager mit ungarischen Juden des Abschnittes Mitte und des Raumes um Sopron begann die Evakuierung vor der anrückenden Roten Armee zwischen dem 26. und 28. März 1945. Das abweichende Datum resultierte dabei aus der unterschiedlichen Nähe dieser Lager zur näherrückenden Frontlinie. Üblicherweise marschierten die Kolonnen der Zwangsarbeiter auf Nebenwegen an ihr nächstes Ziel, auch Nachtmärsche waren nicht ungewöhnlich. Einerseits geschah dies wohl, um einen besseren Schutz vor feindlichen Luftangriffen zu erreichen. Der wichtigere Grund war aber wohl der, daß die Kolonnen so weitaus weniger Aufsehen bei der Bevölkerung verursachen konnten, und die Straßen für den gigantischen Rückzug der Wehrmacht offen blieben.

Erstes Auffanglager für die in Fußmärschen nach Westen geführten Juden war der Steinbruch von St. Margarethen.[1] Hier sammelten sich die ankommenden Trupps, hielten Rast, und wurden neu zusammengestellt. Von St. Margarethen trieb man zwischen dem 28. und dem 30. März die Kolonnen über Eisenstadt und Stotzing nach Loretto. Auch in Loretto diente der örtliche Steinbruch als Auffanglager. Während der Evakuierungsmärsche erschossen die begleitenden Wachmannschaften alle diejenigen Ungarn, die vor Erschöpfung nicht mehr in der Lage waren weiterzugehen – auch mitten in den Dörfern und direkt vor den Augen der Bevölkerung. Dies ist einer der eigenartigen Widersprüche während der chaotischen Endphase des Krieges: Einerseits marschierten die Kolonnen auf Nebenwegen, damit die Bevölkerung möglichst wenig von den Vorgängen bemerkte. Andererseits ermordeten die Wachen kaltblütig nicht mehr marschfähige Schanzer auch in aller Öffentlichkeit. Grund dafür waren nicht aufeinander abgestimmte Befehle bzw. Weisungen. Lange vor dem eigentlichen Termin der Evakuierungen bereitete die Gauverwaltung die Verlegung von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen Richtung Westen vor. In diesem Zusammenhang gibt es auch Hinweise auf einen Befehl der besagte, dass zurückbleibende Juden nicht lebend in die Hände der Roten Armee fallen durften. Da nicht ausreichend Transportkapazitäten bestanden, war dies de facto ein Mordbefehl.[2] Das die Erschießungen allerdings derart offen stattfanden war nicht im Sinne der Evakuierungspläne, wie einige Reaktionen von Parteifunktionären vermuten lassen.[3] Stotzing, Ried Kirchäcker

Mit ersten Ermittlungen bezüglich der Erschiessungen von Stotzing beauftragten die amerikanischen Besatzer die Behörden in Radstadt. Dort war Martin Spörk, der ehemalige Bürgermeister und Ortsgruppenleiter von Siegenfeld-Heiligenkreuz, Anfang 1946 verhaftet worden. Der überzeugte Nationalsozialist Spörk fungierte während des Südostwallbaues als Unterabschnittsführer im Unterabschnitt Siegendorf – Loipersbach – Rohrbach. Sein Büro befand sich im Drassburger Schloss. Kurz vor Ankunft der Roten Armee flüchtete er in Richtung Westen. Aus Radstadt stammte ein Ansuchen an die Eisenstädter Polizei mit der Bitte um einen „ausführlichen Bericht über die Vorkommnisse besonders beim Transport der Juden von Eisenstadt über Stotzing nach Loretto.“[4] Die daraufhin vom Gendarmerieposten in Leithaprodersdorf vorgenommene Untersuchung ergab folgendes Bild: Etwa 7000 bis 8000 ungarische Juden aus den Abschnitten Mitte und Ödenburg wurden Ende März 1945 im Fußmarsch nach Westen getrieben. Angeblich begleitete SS den Transport, der Stotzing seit dem 29. März ab ca. 23.00 Uhr passierte. Danach lagerten die Ungarn bis zum 31. März im Steinbruch von Loretto und marschierten anschließend über Leithaprodersdorf weiter. Während des Marsches durch die Ortschaften jagte die Wachmannschaft die Bevölkerung von der Straße, man wollte keine Zuschauer dulden.[5] In Stotzing wurden nach Schätzung der Polizeibeamten etwa 6 bis 10 Ungarn ermordet.[6] Die Aussagen der Bevölkerung stimmten darin überein, dass die Erschiessungen durch die begleitenden Wachen – angeblich SS – ausgeführt wurde. Dies geschah immer dann, wenn die betreffende Person zu erschöpft für eine weitere Teilnahme am Evakuierungsmarsch war und zurück blieb. Beerdigt bzw. an Ort und Stelle verscharrt wurden die Toten von ihren Kameraden. Den Gemeindediener von Stotzing forderten die begleitenden Wachen ebenfalls dazu auf sich am Begräbnis der Erschossenen zu beteiligen, jedoch lehnte er dieses Ansinnen ab.

Offenbar hatte die Gendarmerie Schwierigkeiten brauchbare Informationen zum Tatbestand zu erhalten, wie der Abschluß ihres Berichtes nahelegt:

„Es erweckt den Anschein, als wenn die Bewohner der Ortschaften, durch welche der Judentransport ging, keine Angaben machen wollen, da sie befürchten, Unannehmlichkeiten und Scherereien zu haben.“

Der Eisenstädter Adalbert Riedl war als Notdienstverpflichteter am Südostwall in Schattendorf eingesetzt.  Er besuchte während der Absetzbewegung seine Familie in Eisenstadt, und ging dann „am Karfreitag dem Transport nach.“ Warum er dem Transport folgte, läßt er offen. Möglicherweise – aber das bleibt Spekulation – war er selber in irgendeiner Form als Wachmann am Evakuierungsmarsch beteiligt. Jedenfalls berichtete er, dass er am Karfreitag „4 – 5 tote Juden“ in Stotzing liegen sah als „ich allein durch Stotzing ging“. Auch er gab an, dass die Toten „von in Stotzing anwesenden SS-Leuten erschossen wurden.“ Zur Bewachung sagte er aber aus, das es sich dabei um Angehörige der SA gehandelt hätte. Die Information über die Mörder der Ungarn konnte er nur vom Hörensagen kennen, da er erst in Stotzing eintraf, als der Mord bereits geschehen war.

Die Ereignisse rund um den Evakuierungsmarsch der Ungarn durch Stotzing sind auch heute noch unter der Bevölkerung bekannt. So wird beispielsweise erzählt, dass Ortsbewohner, die den Juden etwas zum Essen reichen wollten, von der Begleitmannschaft mit der Waffe bedroht wurden.[7] Anschaulich erzählt die damals 18jährige Maria Gschiesel von den Ungarn, die in einem erbarmungswürdigen Zustand durch den Ort getrieben wurden. Die einzelnen Gruppen waren ca. 80 – 100 Personen stark – manchmal auch mehr – und marschierten sehr langsam in 4er oder 5er-Reihen. Ihre Kleidung war derart zerschlissen, dass man oft nur mehr von Lumpen reden konnte. Die Ungarn baten um etwas Brot, aber wegen der Wachen hatte niemand den Mut ihnen etwas zu geben. Solche Gruppen mit ungarischen Juden durchquerten mehrere Tage lang die Gemeinde. Frau Gschiesel arbeitete damals in der Landwirtschaft auf den Höfen der Umgebung. Eines Nachts, während die Evakuierungen noch andauerten, kam sie von ihrem Arbeitseinsatz nach Hause. Aufgrund der Verdunkelung lag der Ort in völliger Finsternis. Plötzlich stolperte sie auf dem Kirchplatz über ein Hindernis. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie vier tote Juden vor sich auf dem Boden liegen. Da sie damals nicht weit vom Kirchplatz wohnte, weiß sie von der Bestattung der Toten unweit des Tatortes am nächsten Tag. Ihrer Schilderung nach kamen die Ungarn nicht über die Straße von Eisenstadt, sondern wurden über die Feldwege südöstlich von Stotzing geführt. Vom Hörensagen weiß sie auch noch von Erschießungen in der Ried Kirchäcker. Die dort zu Tode gekommenen Juden wurden links und rechts des Feldweges verscharrt (Interview mit Maria Gschiesl, 2016).[8]

Auch wärend unserer Recherche 2016 vor Ort in Stotzing stießen wir auf Ablehnung. Uns wurde von einer Anwohnerin bedeutet, dass man selber Opfer des Krieges gewesen sei. Der Versuch eines Gespräches wurde mit dem problematischen Satz „Lasst’s die Toten ruhen!“ abgebrochen. Noch immer scheinen einige Personen „Unannehmlichkeiten und Scherereien“ aufgrund der damaligen Vorgänge zu befürchten.


[1] Vgl hierzu Michael Achenbach, Dieter Szorger. Der Einsatz ungarischer Juden am Südostwall im Abschnitt Niederdonau 1944/45. Dipl.Arb. Wien 1996, S. 159ff.

[2] ebd. S. 186ff, 196ff.

[3] Vgl. hierzu bespielsweise die Vorgänge in St. Margarethen am 30. März 1945. Damals wurden 30 – 40 ungarische Juden im Meierhof in St. Margarethen erschossen. Die Empörung des Bürgermeisters und Ortsgruppenleiters von St. Margarethen, Karl Unger, über die Erschießung im Meierhof bezog sich nicht auf den Mord an sich, sondern auf die Wahl des Tatortes. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn die Tat außerhalb der Gemeinde im Steinbruch stattgefunden hätte, „damit die Bevölkerung in St. Margarethen nicht in Furcht und Unruhe versetzt werde.“ Wiener Stadt- und Landesarchiv. LG Wien Vg 11h Vr 3117/45. Aussage des ehemaligen Gendarmeriebeamten Viktor Franz vom 15. Dezember 1946, (Blatt 27).

[4] Wiener Stadt- und Landesarchiv. LG Wien 31 Vr 471-56 gegen Brauner, März, Pöllhuber. Polizeikommissär Ing. Walter C. Riebl am 11. März 1946 an das Polizeikommissariat Eisenstadt, (Blatt 69).

[5] Wiener Stadt- und Landesarchiv. LG Wien 31 Vr 471-56 gegen Brauner, März, Pöllhuber. Gendarmeriepostenkommando Leithaprodersdorf am 1. April 1946 an das Polizeikommissariat in Eisenstadt.

[6] Vergleiche hierzu und zum Folgenden: Wiener Stadt- und Landesarchiv. LG Wien 31 Vr 471-56 gegen Brauner, März, Pöllhuber. Bundespolizeikommissariat Eisenstadt am 29. April 1949. Spörk Martin, Unterabschnittsführer beim Stellungsbau – Vorkommnisse beim Judentransport von Eisenstadt über Stotzing nach Loretto – Bericht. (Blatt 175 – 179)

[7] Telefoninterview mit Rudolf Krauscher am 13. Juni 2016.

[8] Interview mit Maria Gschiesel in Stotzing am 4. Juli 2016.

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Interview mit Maria Gschiesl, 2016

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