Unter den wartenden ungarischen Juden machte sich im Laufe des Vormittags Unruhe breit. Erste Gerüchte über die Erschießungen kamen auf, wahrscheinlich hörte man auch die Schüsse im Urbarialwald. [1] Etwa zwei Dutzend Ungarn nutzten das Chaos im Dorf und flüchteten, um einem ungewissen Schicksal zu entgehen. Hilfreich war, dass zu diesem Zeitpunkt die Zwangsarbeiter im Lager nicht bewacht wurden. Chajim Elijahu Messinger schilderte, wie sie ihre spärliche Habe nahmen und sich auf den Weg in Richtung Ungarn, der Roten Armee entgegen, machten. Einmal stießen sie auf zurückgehende Soldaten der Wehrmacht. Es dürfte sich um letzte Nachhuten gehandelt haben, die aber auf ihre eigene Sicherheit bedacht waren und sich nicht weiter um sie kümmerten. An einer Brücke (über die Pinka?) hielten sie zwei bewaffnete Volkssturmangehörige auf, ließen sie aber nach einem kurzen Wortwechsel weiterziehen. Sie übernachteten auf einem Bauernhof und trafen am nächsten Tag auf die ersten Rotarmisten. Anfangs verdächtigte man sie der Spionage, ließ sie aber bald weiterziehen – allerdings erst nachdem sie ihre letzten Uhren abgeben mussten. In Szombathely wurden sie schließlich behördlich registriert und bekamen neue Pässe ausgestellt. [2]
Während die Erschießungen andauerten kam ein völlig aufgelöster Ungar zum Lager zurück. Er gehörte zu einer der beiden ersten Gruppen die zur Exekution vorgesehen waren, konnte aber kurz nach der Martinskirche in den Wald flüchten und sich verstecken. Er erzählte den im Lager wartenden Ungarn von den Erschießungen, die er mit eigenen Augen gesehen habe. Etwa 20 von seinen Zuhörern entschlossen sich daraufhin ebenfalls zur Flucht. Sie mischten sich unter die durch das Dorf ziehenden Flüchtlinge. Hinter dem Ort bogen sie aber nach Osten ab, durchquerten die Pinka und warteten in einem Waldstück auf die Ankunft der Roten Armee. [3]
Ein weiterer Ungar überlebte wie durch ein Wunder die Erschießung im Wald. Sandor Künstler schilderte später in einem Brief an Pfarrer Farkas, wie er gemeinsam mit seinem Freund Franz Haiman mit der zweiten Gruppe zur Erschießung geführt wurde. Nachdem sie im Graben standen schossen die SS-Männer auf die Ungarn. Künstler wurde nur von einem Streifschuß getroffen. Einige Minuten später verließen die SS-Männer den Tatort, vermutlich da die Erschießung eingestellt wurde, und Künstler konnte flüchten.[4] Kurz nach seiner Flucht kehrten die HJ-Burschen mit dem Auftrag von Alfred Weber zurück, den Graben mit den Leichen zuzuschaufeln. Dabei stießen sie auf einen weiteren angeschossenen Ungarn der sich im Laufgraben noch regte und um Hilfe bat. Franz Aldrian erschoß den Verwundeten kaltblütig.
Und ein dritter Jude scheint das Massaker angeschossen überlebt zu haben. Er wurde am 30. oder 31. März von den Angehörigen des Zollgrenzschutzes Julius Schwab und Eduard Pehr am Ort des Massakers angetroffen. Eduard Pehr gab an, dass der Ungar einen Streifschuß am Hals hatte und dieser erzählte, „er sei von Kindern angeschossen worden“. Sie gaben ihm Brot und Wein und rieten ihm „sich nach der Gemeinde Deutsch Schützen zu retten“.[5]
Nach der Einstellung der Erschießungen wurden die übrigen ungarischen Zwangsarbeiter auf den Abmarsch nach Westen vorbereitet. Am Nachmittag des 29. März 1945 verließen etwa 400 bis 450 Ungarn den Ort Deutsch Schützen. Auch jetzt gelang einigen von ihnen die Flucht. Moshe Zairi erzählte, wie er gemeinsam mit seinem Freund Yitzhak Klein den Auftrag erhielt, sechs weitere Ungarn von einem Bauerhof zurückzuholen, die dorthin zum Arbeiten „verliehen“ worden waren. Nach Rückkehr der Gruppe sollten sie sich dem Evakuierungsmarsch anschließen. Als sie außerhalb der Ortschaft waren beschlossen die beiden keinesfalls zurück zu kehren. Stattdessen versteckten sie sich den restlichen Tag auf den Feldern unter einem Haufen Stroh. Nachdem es Dunkel wurde schlichen sie zurück nach Deutsch Schützen und baten den Pfarrer Johann Farkas um Hilfe. Farkas hatte den Ungarn schon während der Schanzarbeiten seinen seelischen Beistand geleistet. „Er sprach ungarisch, versuchte uns zu trösten, uns zu beruhigen, aber auch nicht mehr als das.“ [6] Erst wollte der Pfarrer aus Angst vor den möglichen Konsequenzen die beiden wieder los werden. Aber der Hinweis, dass der Krieg bald aus sei und es nicht zu seinem Schaden sei, wenn die Russen bei ihm zwei russisch sprechende Juden finden würden, überzeugte ihn schließlich. Er versteckte die beiden in einem Heuschober in der Nähe des Pfarrhofes und versorgte sie in den nächsten drei Tagen gemeinsam mit seiner Haushälterin Maria Blaskovits. In dieser Zeit kam es noch zu vereinzelten Kämpfen entlang der Grenze. Nach der Befreiung durch die Rote Armee wurden auch sie erst von einfachen Soldaten der Spionage verdächtigt. Nach einem Verhör durch einen Offizier erhielten sie aber die Erlaubnis nach Ungarn zurückzukehren. [7]
Ferenc Kovács war ein weiterer Ungar, der sich in Deutsch Schützen verstecken konnte. Er arbeitete nicht wie die anderen Zwangsarbeiter am Südostwall, sondern wurde dem Dorfschmied zugeteilt. Zwischen dem Schmied und ihm dürfte sich ein Vertrauensverhältnis gebildet haben, denn nachdem der Schmied zum Volkssturm einrücken mußte übergab er Kovács die Schlüssel zur Schmiede. Als die Situation am 29. März kritisch wurde schickten einige Dorfbewohner Ferenc Kovács zur Metzgerei. Dort versteckte man ihn und einen weiteren Ungarn und versorgte beide drei Tage lang. Nach der Befreiung durch die Russen konnten auch sie nach Ungarn zurückkehren. [8]
[1] Walter Manoschek, „Dann bin ich ja ein Mörder!“, Göttingen 2015, S. 83, 84.
[2] Bericht von Chajim Elijahu Messinger, zitiert nach Walter Manoschek, „Dann bin ich ja ein Mörder!“, Göttingen 2015, S. 83 - 84.
[3] Bericht von Ladislau Blum, zitiert nach Walter Manoschek, „Dann bin ich ja ein Mörder!“, Göttingen 2015, S. 84 - 85.
[4] Abschrift eines an Johann Farkas gerichteten Briefes von Sandor Künstler. Übersetzt und als Beweismittel zum Prozeß eingereicht von Johann Farkas. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Landesgericht Wien Vg 8e Vr 661/55 gegen Alfred Weber, Blatt 91.
[5] Zeugenaussagen von Julius Schwab und Eduard Pehr. Aufgenommen auf dem Bezirksgericht Oberwart am 16. Februar 1946. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Landesgericht Wien Vg 8e Vr 661/55 gegen Alfred Weber, Blatt 107
[6] Aussage des Überlebenden Moshe Zairi, zitiert nach Walter Manoschek, „Dann bin ich ja ein Mörder!“, Göttingen 2015, S. 39.
[7] Bericht von Moshe Zairi, zitiert nach Walter Manoschek, „Dann bin ich ja ein Mörder!“, Göttingen 2015, S. 85 – 88.
[8] Interview von Harald Strassl und Wolfgang Vosko mit Ferenc Kovács, zitiert nach Walter Manoschek, „Dann bin ich ja ein Mörder!“, Göttingen 2015, S. 88 – 89.